Die Goldene Stunde
Die Goldene Stunde
Ein Gast-Blogbeitrag von unsere IBCLC Stillberaterin Lina, eine unserer InnerMe-Expertinnen.
Der erste Haut-zu-Haut-Kontakt, das erste Kuscheln und Kennenlernen. Wenn Mutter und Kind sich nach der Geburt das erste Mal direkt spüren, sehen, riechen, fühlen passiert jedoch noch viel mehr, als das was wir von außen beobachten können. Dieser erste Kontakt war evolutionär gesehen überlebenswichtig für das Neugeborene, weswegen er auch heutzutage noch physiologische Abläufe bei Mutter und Kind unterstützt und fördert.
Auswirkungen auf die Mutter:
- Schnellere Geburt der Plazenta
- Weniger nachgeburtliche Blutungen
- Verringerte Stresslevel/Stresshormone
- Unterstützung der Bindung durch starke Ausschüttung von Oxytocin
- Positive Einflüsse auf den Stillstart
- Milchbildung
Auswirkungen auf das Neugeborene:
- Verringerte Stresslevel/Stresshormone
- Weniger weinen
- Bessere Temperaturregulation
- Positive Einflüsse auf den Stillstart
- Korrektes Anlegen/Saugen
- Erhöhte Katecholaminwerte* beim Kind
- Besseres Erinnerungsvermögen an diese „bindende“ Situation
- Geruch/Geschmack von Haut/Kolostrum prägen auf das Stillen
Erste Studien lassen sogar positive Langzeiteinflüsse möglicherweise bis ins Erwachsenenalter vermuten. Was jedoch sicher vorliegt, sind Beobachtungen und Studien, dass dieser ungestörte Kontakt sich signifikant positiv auf den Stillbeginn und den weiteren Stillverlauf auswirkt.
Die bekannten Fakten bezüglich der positiven Auswirklungen des ungestörten Haut-zu-Haut-Kontaktes in der ersten Stunde nach der Geburt sind so groß, dass WHO und UNICEF darauf aufbauend diesen ausdrücklich empfehlen, auch um Mutter und Kind in der Initiierung des Stillens bestmöglich zu unterstützen. Was wir nämlich bei ca. 75% der Neugeborenen innerhalb der ersten 60 Minuten nach der Geburt (vaginale Geburt) sehen können, ist der Breastcrawl. Dieser biologisch „vorprogrammierte“ Ablauf, führt zum ersten selbständigen Anlegen und Stillen des Neugeborenen. Er läuft in 9 Stadien ab:
Stadium |
Verhalten |
1. Erstes Weinen |
Erstes Weinen nach der Geburt und der Übergang zum eigenständigen atmen |
2. Entspannung |
Das Neugeborene ruht sich aus. Kaum körperliche Aktivität zu sehen. |
3. Aufwachen |
Zeichen von Aktivität. Leichte Bewegung des Kopfes: hoch und runter – zur Seite. Leichte Bewegungen der Arme und Beine. |
4. Aktivität |
Kopf und Gliedmaßen werden bewegt. Mehr „zielgerichtete“ Bewegungen. Suchbewegungen und das erste Abstoßen mit den Füßen. |
5. Entspannung |
Das Neugeborene ruht sich aus mit wenig Aktivität. Saugen an den Händen, Mundbewegungen. |
6. „Krabbeln“ |
Das Neugeborene bewegt sich durch abstoßen und hin und her bewegen zur Brust(warze). |
7. Gewöhnung |
Das Neugeborene hat die Areola/Brustwarze erreicht. Leckt und sucht. |
8. Saugen |
Die Brustwarze und Gewebe wurden in den Mund genommen und das Neugeborene saugt. |
9. Schlafen |
Das Neugeborene schläft/ruht sich aus. |
Was wichtig zu wissen ist, dass diese physiologischen Abläufe jedoch auch störanfällig sind. Frühgeburt, Einleitung, Geburtsinterventionen, bestimmte Schmerzmedikamente unter der Geburt oder eine Sectio können die frühkindlichen Reflexe und Reaktionen, sowie die Regulationsfähigkeit vermindern, so dass kein oder nur ein abgeschwächter Breastcrawl stattfindet. Hier benötigen die Neugeborenen meist mehr Unterstützung, um zur Brustwarze zu gelangen und die Mütter eine gute Unterstützung, um ihr Kind dabei begleiten zu können.
Was jedoch (wenn der Allgemeinzustand es zulässt) immer auch hier stattfinden sollte, ist der ungestörte Haut-zu-Haut-Kontakt für mindestens eine Stunde. Aber auch das kann aus individuellen Gründen mal nicht möglich sein. Dieser erste Haut-zu-Haut-Kontakt sollte dann so schnell wie möglich nachgeholt werden und wenn es mit der Mutter nicht möglich ist, kann das natürlich auch beim Vater oder einer anderen Bezugsperson stattfinden. Das Schöne ist, dass es für Haut-zu-Haut-Kontakt und Bonding kein Enddatum gibt. Ihr könnt also jederzeit wieder in diese ruhige, innige Situation zurückkehren. Ob nach einem Tag, einer Woche, einem Monat oder noch länger, wenn das Gefühl da ist, dass dieser Moment fehlt oder euch und eurem Kind helfen würde.
Vereinzelt wird immer mehr über den anhaltenden Haut-zu-Haut-Kontakt im weiteren Wochenbett gesprochen, denn besonders nochmal, wenn wir auf das Stillen gucken, ist dieser Kontakt milchbildungs- und stillfördernd. Es hat keine Nachteile für das Baby, in Bezug auf zum Beispiel die Körpertemperatur. Es zeigt sich sogar genau das Gegenteil. Temperatur, Blutzucker und Regulation sind in den meisten Fällen besser, als bei „alleine liegenden“ und angezogenen Babys. Mittlerweile gibt es sogar auch Klinken in Deutschland, die den Haut-zu-Haut-Kontakt auch über diese goldene Stunde hinaus unterstützen.
*Katecholamine sind bestimmte Botenstoffe in unserem Körper, die unterschiedlich wirken: „Adrenalin und Noradrenalin steigern bei körperlicher Arbeit, psychischer Belastung, Kälte und auch Hitze die Aktivität des Herz-Kreislauf-Systems und mobilisieren Energiespeicher. Dopamin spielt eine große Rolle für das Empfinden von Freude und Lust, aber auch für die Regulation von Bewegungen.“ Thieme, abgerufen am 11.04.2022
Quellen:
UNICEF aufgerufen am 11.04.2022
Morton, Jane (2019) Hands-On or Hands-Off When First Milk Matters Most? In: Breastfeeding Medicine. 14 Issue 5. 295-297. http://doi.org/10.1089/bfm.2018.0253
Widström, A.-M., Brimdyr, K., Svensson, K., Cadwell, K. and Nissen, E. (2019), Skin-to-skin contact the first hour after birth, underlying implications and clinical practice. Acta Paediatr, 108: 1192-1204. https://doi.org/10.1111/apa.14754